Institut für Palästinakunde
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Replik des Palästinakomitees Stuttgart: "Zu einer typisch deutschen Diskussion um Palästina" [24.12.2010]

'Gleichheit oder nichts' - Edward Said Die Stuttgarter Palästina Solidaritätskonferenz vom 26. bis 28. November 2010 hat in erfolgreicher Weise Wege für die zukünftige Solidaritätsarbeit beleuchtet. Unter dem Titel „Getrennte Vergangenheit – Gemeinsame Zukunft, Hindernisse und Perspektiven für eine gerechte Lösung“ referierten und diskutierten PalästinenserInnen, Israelis, Deutsche und AktivistInnen aus vielen anderen Ländern über die Frage Rassismus und Apartheid, Unterstützung des palästinensischen zivilen Widerstandes durch BDS und die Perspektive der Ein-Staat-Lösung. Die Konferenz wurde von der Mehrheit der TeilnehmerInnen als positiv empfunden, das Abschlussdokument, die Stuttgarter Erklärung, haben eine Woche nach ihrem Erscheinen 475 UnterstützerInnen aus der Bundesrepublik und vielen weiteren Ländern unterzeichnet und die Zahl wächst rasch.

Trotzdem ist um die Stuttgarter Erklärung eine Debatte entstanden, die kontraproduktiv für die Bewegung werden kann. Zwar melden sich nur wenige KritikerInnen zu Wort, doch sie führen die Diskussion umso schärfer und mit diffamierenden Argumenten. Gegen keine der inzwischen recht zahlreichen Ein Staaten-Konferenzen, die in den letzten sieben Jahren in Lausanne, London, Madrid, Haifa und Texas stattgefunden haben, hat es eine so erbitterte Reaktion gegeben. Die Reaktion von Außenstehenden auf die Stuttgarter Konferenz nimmt eine traurige deutsche Ausnahmestellung ein. An der Diskussion um die abschließende Stuttgarter Erklärung zeigt sich auch, wie schwer es ist, in Deutschland den Aspekt des Apartheid-Staats Israel und die Konsequenzen aus seiner möglichen Überwindung ins Zentrum zu stellen.

Für die ReferentInnen, die OrganisatorInnen und die Mehrheit der KonferenzteilnehmerInnen stellt die Apartheid-Gesellschaft des zionistischen Israels den Kern des Problems dar. Daher darf nicht nur die Besatzung von einer internationalen Bürgerrechtsbewegung bekämpft werden, vielmehr müssen die Säulen der Apartheid, die rassistischen Strukturen des Staats Israels im Zentrum von Boykott, Divestment and Sanctions (BDS) stehen. So ist es auch im Aufruf der palästinensischen Zivilgesellshaft zu BDS gegen Israel festgehalten.

Aus dem palästinensischen BDS-Aufruf geht eindeutig hervor, dass die Maßnahmen so lange fortgeführt werden, bis auch die PalästinenserInnen in Israel gleiche Rechte haben und das Rückkehrrecht der Palästinensischen Flüchtlinge an die Orte, von denen sie vertrieben worden sind und nicht nach Jericho und Gaza (wie viele der KritikerInnen meinen) eingelöst ist (Punkt 2 und 3 in der Erklärung der palästinensischen Zivilgesellschaft vom 9. Juli 2005). Dies soll geschehen, selbst wenn sich die israelischen Besatzungstruppen vorher aus der Westbank zurückgezogen haben und die Gaza-Blockade beendet worden ist.

Ludwig Watzal beschränkt die BDS-Bewegung dagegen auf die Besatzung und beweist damit ein mangelhaftes Verständnis der internationalen Kampagne. Würden wir ihm und anderen KritikerInnen folgen, entstände eine deutsche Sondersituation und eine Spaltung der internationalen Bewegung.

„Spaltung und Sektierertum“ nennen die KritikerInnen Viktoria Waltz, Ludwig Watzal, Thomas Immanuel Steinberg und Knut Mellenthin die Forderung einer Ein-Staat-Lösung in der Stuttgarter Konferenz und der Erklärung. Damit unterscheiden sie sich von den Bürgerrechtsbewegungen in Palästina und Israel. Diese Bewegungen sind offen und relativieren die Menschenrechte nicht. Deutliches Beispiel dafür sind die ReferentInnen der Stuttgarter Konferenz, die alle eine führende Rolle im zivilen palästinensischen Widerstand in der Westbank und im Gazastreifen spielen. Der Referent Mazin Qumsiyeh ist am 22. Dezember beim Protest gegen die Apartheid-Mauer und die Besatzung verhaftet worden. Ein weiteres Beispiel ist Uri Davis, der zwar Mitglied des Fatah-Revolutionsrates ist, sich aber nie auf die Zwei-Staaten-Lösung hat festlegen lassen und wie viele andere Aktivisten aus Palästina/Israel selbstverständlich zu den UnterzeichnerInnen der Stuttgarter Erklärung gehört. Wer dagegen den KritikerInnen folgt, zensiert die AktivistInnen in Palästina/Israel und hält an der Spaltung der Bevölkerung in Religionsgruppen fest. Und schlimmer noch, er schließt den zivilen Widerstand innerhalb der Grünen Linie, im Negev, in Galiläa und an vielen anderen Orten von der Unterstützung durch die deutsche Menschenrechtsbewegung aus. Dies ist bei den KritikerInnen der Stuttgarter Erklärung leider schon seit vielen Jahren Praxis.

Sonderbarerweise verschanzen sich die KritikerInnen hinter dem Argument, man könne den PalästinenserInnen nicht von Deutschland aus das Ein- oder Zwei-Staaten-Modell vorschreiben. Dies tun sie jedoch seit Jahrzehnten selbst, indem sie die Ein-Staaten-Lösung gar nicht in Betracht ziehen und die Zwei-Staaten-Lösung als die einzig richtige darstellen. So soll es ihrer Meinung nach offensichtlich weitergehen, obwohl sich die Zwei-Staaten-Lösung seit langer Zeit in der Sackgasse befindet. Da hilft es auch nicht, das tote Pferd mit einer Vorspiegelung falscher Tatsachen zu beleben. Es ist eben nicht so, dass die „internationale Anerkennung eines palästinensischen Staates erstmals in Reichweite rückt“, wie Knut Mellenthin behauptet. Der Aufruf von Abbas, den palästinensischen Staat anzuerkennen, ist ein verzweifelter Versuch, aus der blockierten Situation zu entrinnen, indem er den Ausruf des palästinensischen Staates in Algier im Jahr 1988 wiederholt. Die Reaktion auf Abbas (5 lateinamerikanische Staaten sprachen die Anerkennung aus) beschreibt die traurige Wirklichkeit. Nach Algier im Jahr 1988 waren es noch 167 Staaten, die den Staat Palästina anerkannt haben. Aber selbst, wenn sich Israel nach Algier aus dem Gebiet in den Grenzen von 1967 zurückgezogen hätte, wäre das Problem nicht gelöst gewesen. Was wäre mit dem Rückkehrrecht der Flüchtlinge und was mit den diskriminierten PalästinenserInnen innerhalb Israels passiert? Wären mit dem Apartheid-Staat so zentrale Fragen wie die gerechte Aufteilung der Wasservorräte zu lösen gewesen? Wohl kaum: Israel bezieht etwa die Hälfte seines Wassers aus der Westbank. Das Problem sind nicht Staatsgrenzen, sondern das Selbstbestimmungsrecht aller PalästinenserInnen und die Anerkennung ihrer Menschenrechte (Freiheit und Gleichheit).

Für eine gerechte Lösung ist ein Systemwechsel im Staat Israel selbst (wie der in Apartheid-Südafrika) die Voraussetzung, dies zeigen die Analysen von Uri Davis und anderen. Wie in Apartheid-Südafrika wird die Einstellung der israelisch-jüdischen Bevölkerung überraschend schnell kippen, sobald das Apartheid-System selbst in Frage gestellt wird. Bleiben die Apartheid-Strukturen im Staat Israel erhalten, werden wir weiterhin jüdisch-israelische BürgerInnen erleben, die zu 55 % keine Wohnungen an nicht-jüdische BürgerInnen vermieten wollen (siehe F.A.Z. vom 8. 12.2010) und die Parteien wählen, die den so genannten Transfer aller nicht-jüdischen BürgerInnen in den palästinensischen Kanton-Staat der KritikerInnen der Stuttgarter Erklärung planen. Diese Absicht haben die PolitikerInnen von Kadima bis Beitunha gleichermaßen. Die KritikerInnen müssen sich fragen, ob sie sich selbst vorstellen können, auf Dauer neben solch rassistischen Nachbarn zu wohnen. Den PalästinenserInnen muten sie das offensichtlich zu.

Vielleicht liegt es an diesen offensichtlichen Verhältnissen, dass die Ein-Staat-Lösung doch ein paar BefürworterInnen mehr hat als das „Dutzend“, das der Kritiker Ludwig Watzal in Israel ausfindig macht. Allein zur Konferenz in Haifa im Juni 2010 kamen 250 TeilnehmerInnen. Zahlreiche weitere internationale Ein-Staat-Konferenzen mit jeweils Hunderten von TeilnehmerInnen gingen ihr voraus. An den UnterzeichnerInnen der Stuttgarter Erklärung, kann man erkennen, wie viele palästinensische Gewerkschaften, Vereine und Initiativen hinter der Stuttgarter Erklärung und ihrer Forderung nach einem gemeinsamen demokratischen und säkularen Staat stehen.

Die Polemik und Aggressivität, die Ludwig Watzal den VerfasserInnen der Stuttgarter Erklärung vorwirft, findet sich wohl eher in seinem Beitrag, in dem sich so viele gezielt falsche Behauptungen finden. Dazu gehört auch, dass Watzal in seinem Artikel die Worte der Schirmfrau Felicia Langer auf der Stuttgarter Konferenz verdreht wiedergibt. Felicia Langer bezeichnete die Ein-Staatenlösung“ zwar tatsächlich als „wunderschön“, aber „unrealistisch“, doch sie fügte auch hinzu „die Hoffnung bleibt“. Sie hat sie also nicht völlig dagegen ausgesprochen, wie Watzal seinen LeserInnen das glauben machen will (siehe die entsprechende Videos auf public solidarity und you tube).

Die VerfasserInnen der Stuttgarter Erklärung sind die letzten, die die Solidaritätsbewegung in Deutschland spalten wollen. Die Analyse, die auf der Konferenz vertreten wurde, spiegelt die Auffassung des Stuttgarter Palästinakomitees seit seiner Gründung im Jahr 1982 wider und trotzdem haben die Mitglieder über Jahrzehnte mit allen anderen Initiativen erfolgreich zusammengearbeitet. Dass eine wirkungsvolle Konferenz mit dem Thema Ein-Staat-Lösung in Deutschland mit harten Angriffen beantwortet würde, haben die OrganisatorInnen erwartet. Das gehört zu den Hindernissen, mit denen sie in der Bundesrepublik und den hiesigen verkrusteten Positionen zur Palästinafrage rechnen mussten. Traurig stimmt auch, dass sich die KritikerInnen den Weg zu einem Frieden nur über die Unterstützung durch Regierungen und die UNO vorstellen können, egal wie wenig sich dieser Weg bewährt hat. Wie in Deutschland üblich, fehlt das Vertrauen in die Kraft einer sozialen und Bürgerrechtsbewegung. In der Hoffnung auf mehr produktive Offenheit in der Diskussion und klarere Orientierung an den Betroffenen im Konflikt wird derzeit in Stuttgart ein Workshop im Frühjahr zum Thema Boycott, Divestment und Sanctions vorbereitet.

Attia und Verena Rajab Palästinakomitee Stuttgart

 (ts)

Ergänzende Links:
Lesen und unterzeichnen Sie hier die Stuttgarter Erklärung
Warum Sie die Stuttgarter Erklärung unterzeichnen sollten

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